Diesem Artikel ging eine schockierende Selbst-Beobachtung voraus. Lange habe ich mich geweigert, den 140-Zeichen-Dienst Twitter auch nur aufzurufen, geschweige denn zu – das Wort auszusprechen fällt mir heute noch schwer – twittern. Twitter schien sich perfekt in das betäubende immer-schneller immer-kürzer einzuordnen, von dem ich mich im Web möglichst fernzuhalten versuche. Schlimmer noch: was ich auf Twitter gelegentlich sah, war in meinen Augen komplett wertlos.
Zögerlich, quasi als Zugeständnis an unsere Corporate Identity, habe ich mich dann doch eingetragen und einen ersten Tweet veröffentlicht, am 25. Mai 2009 um 8:23. 428 Tweets und 3 Monate später machte ich folgende Beobachtung: Twitter hat mein über mehr als 10 Jahre gefestigtes Online-Medienverhalten innert weniger als 90 Tagen komplett verändert. Ich erschrak. War ich in Nullzeit verblödet, oder liegt doch ein Wert in 140 Zeichen – und wenn ja, welcher?
Während Jahren konsumierte ich Online-Medien aktiv-passiv, im pull-Verfahren. Meine tägliche Routine bestand darin, 2, 3 Zeitungsseiten (Tages-Anzeiger, NZZ, New York Times), nach deren Aufkommen gelegentlich den einen oder anderen Aggregator (Techmeme, facts.ch), eine Social-News-Plattform wie reddit.com, vielleicht ein Forum und ab und zu einen Blog, ein paar abonnierte RSS-Feeds zu Spezialthemen aufzurufen. Ich wählte den einen oder anderen Artikel aus, las ihn ganz oder teilweise, las selten die Kommentare, schrieb noch viel seltener einen eigenen, verschickte vielleicht gelegentlich einen Link per E-Mail oder Skype, nahm aber auf keiner Plattform während längerer Zeit aktiv teil.
Seit dem 25. Mai kommen die Artikel zu mir, und zwar aus Quellen, die ich nach meinem Gusto jederzeit neu zusammenstellen kann und die meinen Interessen oft deutlich besser entsprechen als das klickgeile, „1-Size-Fits-All“-Agendasetting der lokalen Zeitung meiner Wahl. Hat sich dadurch mein Horizont verkleinert? Das Gegenteil ist geschehen, ich erhalte mehr hochwertige Informationen, habe eine globale Sicht auf das Tagesgeschehen zurückgewonnen und dieser, dieser und dieser Artikel ist durchs Web gerauscht, ohne dass ich ihn gesehen und mich auch nur eine Sekunde darüber aufgeregt hätte.
Es liegt eindeutig ein Wert in 140 Zeichen. Ein Strom aus 140 Zeichen-Nachrichten, produziert von meinem ganz persönlichen social graph vollbringt für mich eine Filterleistung, die ich zwar oft erahnt, bisher aber in keinem Medium gefunden habe. Und ich kann erst noch ohne Mühe selber teilnehmen. Also wohlan – Twitter-Anteile kaufen, Twitter-Applikationen entwickeln, twittern, twittern? Nein, denn paradoxerweise hat das Tool, das für mich eine so gute Newsleistung erbringt ganz entsprechend meiner ursprünglichen Beobachtung keinerlei inneren Wert. Die menschliche Filterleistung könnte schon morgen durch eine beliebige andere Plattform fliessen und auch den Tweets als solche fehlt jeglicher Kontext, sie sind bloss kommentierte Verweise auf einen anderen Ort. Es gibt keine «Nur-Twitter»-Prominente, keine «Nur-Twitter»-Literaten oder gar «Nur-Twitter»-Hohepriester. Wir erscheinen als gemachte Leute auf Twitter und verlassen die Plattform fast unverändert wieder. Deshalb finden sich auch so wenige Teenager auf diesem Dienst.
Die Schnipsel, die wir in stets steigender Kadenz durch Netz jagen, die Tweets, die einzelnen Songs, die Filmszenen sind Verweise auf etwas Grösseres, als Verweise unendlich wertvoll (Zyniker sagen: bloss Marketing), als kulturelle Artefakte haben sie eine sehr kurze Halbwertszeit. Deshalb müssen wir uns auch dazu überwinden, immer wieder die Herausforderung eines längeren Artikels, eines Buches (behüte), der Pflege einer Website, eines Filmes oder eines Musikalbums anzunehmen.