Am 12. Januar 2010 meldete Google in einem Blogeintrag wie ein Blitz aus heiterem Himmel, dass man eine “neue Herangehensweise” an China ins Auge fasse. Man sei nicht weiter bereit, die Suchresultate der chinesischen Google-Suchmaschine zu zensurieren. Wegen den chinesischen Staatshackern. Wegen der Industriespionage. Wegen den Menschenrechtsverletzungen. Wie, was?
Chinesische Hacker hätten sich im Dienste des Staates, so Google zwischen den Zeilen, in verschiedene Server von amerikanischen Grossunternehmen eingehackt und nach Firmendaten und Dissidenten-Infos geschnüffelt. Das habe das Fass zum überlaufen gebracht. Google sei deshalb nicht länger bereit, die eigene Suchmaschine in China zu zensurieren. Bumm!
Gesagt, getan: Chinesen, die nach dem 12. Januar nach “Tiananmen” googlen, sehen keine hübschen Girls, die über einen sauber gefegten Platz spazieren, sie sehen den Mann vor dem Panzer. Google-Fans bringen Blumen zum chinesischen Hauptquartier. Die Story, dass Google der chinesischen Regierung den Mittelfinger zeigt, explodiert übers ganze Internet.
George Kurtz, CTO von McAfee, einem der führenden Anbieter von Antivirenprogrammen, bestätigt ein paar Tage später, dass die Hacker-Geschichte stimme. Chinesische Hacker hätten tatsächlich ein Leck im Internet Explorer ausgenutzt, um sich über die Hintertüre in die leckeren Server von Google, Adobe & Co. einzuschleichen.
Nun, niemand zweifelt daran, dass die Geschichte stimmt. Industrie- und Politspionage in Form von Hackerangriffen durch die chinesische Regierung sind nichts Neues. Steht alles im Ghostnet-Report (auf den im Google Blogpost doppelt verwiesen wird). Dass die chinesische Regierung den eigenen Dissidenten überall hin nachtigert, weiss jeder. Der Blogtext wurde wochenlang massiert, bis er in der gegenwärtigen Form stand. Wenn man davon ausgeht, dass Google weiss, was Google tut, kann man davon ausgehen, dass alles, was in dem Dokument steht, faktisch stimmt. Geht man davon aus, dass Google nicht weiss, was Google tut, dann weiss man nicht, wer Google ist.
Gemäss Wall Street Journal stehe der in Russland aufgewachsene Sergey Brin hinter diesem unkonventionellen Schachzug. Google-Mitgründer Brin habe sich nach intensiver Debatte gegen CEO Schmidt durchgesetzt. Und wie fast alles was Google macht, funktioniert’s sehr wahrscheinlich auch:
- Google etabliert sich als Kämpfer für Meinungsfreiheit und Menschenrechte
- Google zeigt China die Stirn und haut als erstes westliches Unternehmen die Faust auf den Tisch
- Google stellt jede Regierung, die einen Kampf gegen das Unternehmen führt, in die chinesische Ecke
- Google lenkt für einige Zeit vom sich abzeichnenden Google-Phone-Debakel ab
- Google renoviert die eigene aus Konsumentenperspektive inzwischen zunehmend zweifelhaft gewordene Marke als vertrauenswürdig, sicher, volksverbunden
- Google ist wieder das “andere” Unternehmen
- Microsoft zieht den Schwarzen Peter, weil es sich mit seinem Internet Explorer wieder mal einen Riesenpatzer geleistet hat, und weil nun alles, was sie in China machen falsch ist (ausser sie folgen Google nach)
Robert Scoble, der Nerd vom Dienst, der bei jedem Techtrend immer und überall der erste sein will, meldete sofort: “Ich bin wieder ein totaler Google-Fan.”
Seine Nemesis, TechCrunch-Kolumnist Paul Carr, normalerweise zehnmal scharfzünginger und scharfsinniger als alle Tech-Kolumnisten zusammen, versuchte unmittelbar die Scoble-Gegenposition einzunehmen. Kein Grund zum Jubel, meinte er. Denn der Schachzug von Google sei sicher kein moralischer. Aha.
Die Diskussion geht nun hin und her zwischen den Zynikern, die meinen Google sei einfach ein schlechter Verlierer (weil sie “nur” 30% des chinesischen Suchmarktes erobern konnten) und den Romantikern, die Google als Ritter im Kampf mit dem chinesischen Drachen sehen. Viele Argumente sind wilde Spekulation (z.B. “Google baut gerade an einer globalen anti-Firewall”), und nicht selten hört man nicht anderes als läppische Besserwisserei (z.B. “Google versteht die chinesische Geschäftskultur nicht”).
Meiner Ansicht nach sind das alles eher triviale Positionen. Selbstverständlich werden Grossunternehmen vom Kaliber Google weniger nach moralischen als nach strategischen Kriterien geführt. Moral ist bloss ein (im Kommunikationszeitalter etwas wichtigerer) firmenstrategischer Faktor. Selbstverständlich ist der Schachzug von Google “amazing”. Wer hätte das erwartet? Wer sonst könnte sich sowas überhaupt leisten?
Faktisch überraschend an Google’s China-Geschichte ist, dass sich für Google das Geschäft mit China nicht lohnt; und das ist ziemlich dicke Post. Die finanzielle Investition, der Markenschaden, der Know-How-Verlust sind scheinbar zu gross für die 600 Millionen Dollar, die zurück in die Google-Kasse fliessen. Umgekehrt scheint der Image-Gewinn bei einem Rückzug bedeutender als die Aussicht auf eventuellen finanziellen Gewinn irgendwann in der Zukunft. Statt einfach abzuziehen, zündet man also eine PR-Atombombe.
Interessant ist die Geschichte auch, weil der Rückzug von Google ein schwererer Schlag für den Wirtschaftsstandort China sein dürfte, als heute von vielen Experten angenommen wird. Wenn sich die Techmarke Nummer eins aus China verabschiedet, weil sich die Geschäfte nicht lohnen, dann kann das zu einem Kaisers-Kleider-Moment für einen Wirtschaftsstandort werden, in den seit Jahrzehnten Geld blind investiert wird.
Der Rückzug von Google aus China bedeutet für viele, was Beobachter schon lange vermuten und viele Insider seit Jahren sagen: “Wer nicht Chinese ist, macht kein Geld in China.” Wenn dieser Gedanke unter den CEOs, CFOs und Wirtschaftsministern, die China noch immer für ein kapitalistisches Eldorado halten, Schule macht—dann hat Google mit dem betreffenden Blogeintrag am Rad der Weltgeschichte gedreht.