Interview von Christoph Ebert für Webmagazin anlässlich der MobileTech Conference in München.

Ein Umzug nach Japan im Jahr 2003 war das Schlüsselereignis im Leben von Oliver Reichenstein. Seitdem ist im Leben des 42-jährigen Baselers viel passiert: 2005 gründete er seine eigene Firma Information Architects (iA), die inzwischen Niederlassungen in Tokio, Zürich und Berlin unterhält und eine der weltweit führenden Agenturen für Website Design und Informations Architektur. iA hat sich unter anderem mit dem Design für Zeitungspublikationen (u.a. Zeit Online, Salzburger Nachrichten) einen Namen gemacht. Auch in der Welt der Apps hat man grossen Erfolg zu verzeichnen. Die minimalistische Textverarbeitungsapp iA Writer für iPad und Mac bekam hervorragende Kritiken und viel Lob. In diesem Jahr ist iA Writer auch in der Kategorie «Business und Productivity» für einen MobileTech Award nominiert.

Darüber hinaus geniesst Oliver Reichenstein ein hohes Ansehen als visionärer Vordenker und Philosoph der digitalen Welt. Wir haben mit dem Schweizer, der auf der kommenden MobileTech Conference in München eine Keynote halten wird, unter anderem über den Einfluss der japanischen Kultur auf seine Arbeit, die App iA Writer und sein Verständnis von Design gesprochen.

Herr Reichenstein, als Gründer der Design-Agentur Information Architects sind Sie zum Weltenbummler geworden, denn iA hat Büros in Zürich, Berlin und Tokio. Wo ist gerade Ihr Zuhause?

In Zürich. Ich reise aber viel zwischen Zürich und Tokyo hin und her.

Welche Inspiration haben Sie aus diesen japanischen Einflüssen gezogen und wie schlagen sich diese in Ihren Arbeiten nieder?

Als ich in Japan lebte, hat man in meiner Arbeit vor allem den Schweizer Einfluss, also die Betonung des Typografischen, gespürt. Seit ich nicht mehr in Japan lebe, entwickelt sich mehr und mehr das Japanische in meiner Arbeit. Man sieht die Dinge ja aus der Distanz, von aussen zugleich klarer und zugleich treibt einen auch das Heimweh, früher das Heimweh nach der Schweiz, jetzt das Heimweh nach Japan. Ich habe in den anderthalb Jahren in der Schweiz mehr über japanische Ästhetik verstanden als in den fast zehn Jahren, in denen ich dort war. Ich bin gespannt darauf, wie sich das weiter auswirkt.

Mit iA Writer hat Information Architects ein Schreibprogramm fürs iPad und den Mac veröffentlicht, das aufgrund seines Minimalismus internationale Beachtung und viel Lob eingeheimst hat. Wie viel Ihrer persönlichen Einstellung zu Design steckt in iA Writer?

In iA Writer steckt mein halbes Leben als Designer und Schreibender drin. iA Writer funktioniert so, wie ich mir immer wünschte, dass Schreibprogramme funktionieren. Mein erstes Schreibprogramm habe ich mit 11 geschrieben. Mein Dragon 32 hatte zu wenig Raum für Text, also habe ich ein Schreibprogramm mit einer neuen, minimalen Pixelschrift entwickelt, die den Platz besser nutzt. In gewisser Weise, war mein erstes Programm fast genau die Umkehrung von dem was iA Writer ist.

Ich habe während meiner Studienzeit MS Office unterrichtet. Die Zeit als MS Office Lehrer hat mich alles gelernt, was man wissen muss, wenn man ein Schreibprogramm macht. Office war seinerzeit ein revolutionäres Programm. Es ist heute ein Musterbeispiel für Überladenheit und Disfunktionalität.

Mein Entschluss ein eigenes Schreibprogramm zu machen, hat sich verfestigt, nachdem ich mir eine gute Photokamera gekauft habe. Die Erfahrung mit der Kamera hat mir gezeigt, dass das Werkzeug, mit dem man arbeitet, nicht das Talent ersetzt, aber durchaus den Spass an der Arbeit steigern kann. Ich dachte immer, dass das Werkzeug keine so grosse Rolle spielt, wenn man sein Handwerk beherrscht. So kann nur einer denken, der mit Computern arbeitet, weil da die Freude an der Arbeit nur selten durch das Werkzeug positiv beeinflusst wird.

Was Awards angelangt… die sind mir eigentlich ziemlich egal. Unser grösster Award sind die 500,000 User, die unsere App nutzen, und nicht mehr wechseln. Dass wir jetzt, wo der Hype um störungsfreies Schreiben schon lange abgeklungen ist, besser da stehen als je zuvor, das bereitet mir die grösste Freude.

Mit welchen Projekten befassen Sie sich derzeit?

Wir haben einiges an Projekten am Laufen, die wie ich hoffe, aufhorchen lassen werden. Ich rede nicht mehr über Dinge, die in Planung sind. Aus Strategie, Aberglaube und Erfahrung. Nur so viel: Wir arbeiten an neuen Technologien zum Thema lesen, Schreiben und Farbe. Das Thema Farbe ist stark beeinflusst von meiner Auseinandersetzung mit japanischer Ästhetik.

Manch ein Web Designer vertritt die Meinung, man muss im Web Design den Mut zur Hässlichkeit haben, um wirklich gute Ergebnisse zu erzielen. Was ist für Sie wichtiger? Gute User Experience, Ästhetik oder ein Kompromiss aus beidem?

Es gibt da keinen klaren Unterschied, sondern einen nur ganz feinen. Schönheit wird genauso im Kopf wie wie im Körper wahrgenommen. Eine unsichtbare Balance beider ist, was wir als Designer anstreben.

Schaut man sich die Arbeiten Ihrer Agentur an, beispielsweise das Design für Zeit Online, beschleicht einen der Verdacht, dass es zuweilen schwierig gewesen sein muss, die Auftraggeber von Ihren mutigen, innovativen Konzepten zu überzeugen. Wie sind Ihre Erfahrungen? Sind im Laufe der Jahre auch Ihre Kunden mutiger geworden?

Ja. Am Anfang war es schwierig. Jetzt haben wir den Namen und die Zahlen, die belegen, dass wir wissen, wovon wir reden. Auf Kundenseite haben wir es mit immer kompetenteren Leuten zu tun. Das hat sowohl damit zu tun, dass wir uns aussuchen können, mit wem wir arbeiten, als auch damit, dass man auf Kundenseite grundsätzlich immer mehr darauf schaut, wer für die Technik zuständig ist. Bis noch vor kurzem war es Teil unserer Arbeit den Kunden zu überzeugen, dass die Qualität seines Interfaces ein Hauptbestandteil der Markenerfahrung ausmacht. Heute scheint das oft fast selbstverständlich.

Auf der MobileTech Con halten Sie eine Keynote mit dem Titel «Web Design today: The good, the bad, the nice and the ugly». Können Sie uns einen kleinen Vorgeschmack geben? Was sind für Sie die Grundbedingungen für gutes Web Design?

Die Spannung zwischen Nutzbarkeit und Ästhetik, Logik und Emotion, Funktion und Form in ein Gleichgewicht zu bringen ist eine Grundherausforderung in jeder Designdisziplin. Im Webdesign ist die Herausforderung besonders gross, weil man so wenig Kontrolle über den Formfaktor hat. Im Lauf der Zeit ist die Spannung immer grösser geworden. Fast zeitgenau mit den Webfonts und einem bedeutend grösseren Spielraum in CSS tritt nun die Herausforderung an uns heran, Inhalte auf verschiedenen Geräten mit verschiedenen Formfaktoren und technischen Bedingungen darzustellen. Wie wir bei iA damit umgegangen sind, umgehen und umgehen werden ist das Thema meines Vortrags. Mehr möchte ich noch nicht verraten.

Wenn Sie jungen, aufstrebenden Webdesignern drei wichtige Tipps mit auf den Weg geben sollten, welche wären das?

Technik, Design und Geschäftsprozesse. Fokussiere auf eines, behalte alles im Auge. Man kann nicht in allen drei Disziplinen brillieren, eine reicht, aber man muss in allen dreien ein gutes Verständnis entwickeln um eine der Disziplinen beherrschen zu können.