Interview von Ulrike Daraghma und Pascal Jeschke für Design Made in Germany. DMIG «wollte wissen, ob es die perfekte Webseite gibt, ob Online-Nachrichten-Magazine eine Zukunft haben» und wie wir uns «die Zukunft von Text generell vorstellen.»
Vom Philosophen zum Informationsarchitekten. Was zeichnet Ihren persönlichen Werdegang zum CEO von Information Architects aus?
Wer Germanistik studiert, wird Germanist, wer Medizin studiert, wird Arzt, wer Physik studiert, wird Physiker, aber wer Philosophie studiert, wird dadurch noch lange nicht Philosoph. Ich würde aber sagen, dass das Philosophiestudium je nach Spezialisierung eine ideale Vorbereitung für den Informationsarchitekten sein kann. Denn die Philosophie erzieht einen zur Arbeit an und zur Ordnung der Begriffe. Informationsarchitektur versucht Informationserwartung (in der Fachsprache «Mental Model») und Informationsangebot («Content Model») so gut wie möglich in Einklang zu bringen. Dabei wird versucht, ein Begriffskonstrukt zu finden, das möglichst wenige Denkprozesse von Seiten des Nutzers erfordert. Während die Philosophie zur Arbeit am Begriff auffordert und den Studenten befähigt, Begriffe zu ordnen, ist das Ziel guter Informationsarchitektur, dem User das Denken abzunehmen. Mein persönlicher Werdegang führte über eine kleine Internetagentur zu Interbrand, wo ich während fast vier Jahren für T-Online gearbeitet habe. Interbrand hat damals das Informationsportal und alle Applikationen (Browser, Mail, Banking) neu designt und strukturiert. Ich hatte damals das Glück, als junger Designer an Grundprinzipien der Gestalt eines Riesenprojekts zu arbeiten. Das meiste, was ich über Marke und Unternehmens-/Projektpolitik weiss, stammt aus der Zeit. Gerade als Designer ist es enorm wichtig, dass man sich bewusst ist, dass der politische Teil eines Projektes ebenso wichtig ist wie der kreative. Was nützen die besten Designs, wenn man sie nicht durchbringt? Nach dem T-Online-Projekt bin ich nach Japan gereist, um etwas Neues zu lernen. Der Aufenthalt in einem Land, dessen Sprache und vor allem Schriftsprache ich nicht verstand, hat mir ermöglicht, die Welt wieder wie ein Kind zu sehen, als ein System von Hinweisen ohne explizite Beschreibung. Auch das ist eine gute Schule für den Informationsarchitekten.
Wie kam es zur Web-Trends-Map?
Die ganze Sache fing als Neujahres-Postkarte an, die ich für iA’s erste Paar Kunden an einem Weihnachtsnachmittag designt habe. Das Feedback war so gut, dass ich die Karte als elektronisches Dokument aufs Web gestellt habe. Von da an nahm die Sache ihren unkontrollierbaren digitalen Lauf…
Für die Benutzerfreundlichkeit von interaktiver Software, also auch Websites, gibt es sogar DIN-Normen die auf der kognitiven Wahrnehmung des Menschen aufbauen. Wie kann man den relativ grossen qualitativen Unterschied innerhalb der Internetarchitektur hinsichtlich der Benutzerfreundlichkeit erklären?
Der Grund, warum die meisten Interfaces versagen, liegt darin, dass man als Informationsanbieter immer zu viel sagen will. Als User wissen wir genau: Die meisten Webseiten haben ein viel zu kompliziertes User-Interface; als Anbieter machen wir dennoch den Fehler, unsere Seiten kategorisch zu überladen. Warum so viele Informationsanbieter ihre eigene Erfahrung als User vergessen, ist mir, je länger, desto rätselhafter. Die meisten Firmenseiten beispielsweise brauchen im Allgemeinen nicht mehr als eine Seite, um zu sagen, was sie anbieten, wo sie sind und wen man wie kontaktieren kann (ein Bild, ein kurzer Text, eine Telefonnummer, eine Adresse mit einem GoogleMap-Link). Stattdessen werden wir immer noch oft mit mit billiger Werbesprache gelangweilt und zu Begriffsratespielen («interessante» Navigation) aufgefordert.
Ist gutes Webdesign gleichzusetzen mit guter Usability?
Es braucht eine Balance zwischen Identität und Usability. Ich habe aber die etwas paradoxe Erfahrung gemacht, wenn man von einer soliden Informationsarchitektur ausgeht und die Usability im Auge behält, dass man dadurch oft zu einer starken Identität kommt.
Was zeichnet eine – Ihrer Meinung nach – perfekt benutzerfreundliche Website aus? Und ist das – auch angesichts von Kundenwünschen – überhaupt umsetzbar?
Obwohl das Wort Nutzer Neutralität suggeriert, ist und bleibt jeder Nutzer ein Individuum. Man kann eine Gruppe von Individuen nicht perfekt glücklich machen. Mit anderen Worten: Es gibt keine perfekt benutzerfreundliche Webseite. Aber man kann testen. Webseiten können unter diesem Gesichtspunkt mit einer politischen Gemeinde, und Usability oder A/B Testing mit Demokratie verglichen werden; Tests sind wie Wahlen. In manch spezifischer Hinsicht kann man mit einer bestimmten Lösung nur gerade 51% zufrieden stellen. Wenn man mit einem bestimmten Ansatz die grösstmögliche Gruppe von Usern glücklich macht, bedeutet das nicht, dass man die perfekte Lösung hat, sondern eben die bestmögliche. Manchmal kann es auch sein, dass man in Einzelfragen auch Entscheidungen fällen muss, die sich kurz- oder mittelfristig gegen eine Mehrheit der Userschaft wenden (z.B. Einbindung von Werbung), langfristig aber das Bestehen der Seite gewährleisten, bzw. in der Gesamtsicht die Seite schneller oder konziser machen (Weglassen von Features).
Was macht eine intelligente Informationsarchitektur aus?
Intelligente Informationsarchitektur ist wie eine intelligente Rede; sie beginnt damit, die Erwartungen des Nutzers an das Angebot zurücksetzt, um sie zuletzt zu übertreffen.
Liegt diese im Auge des Betrachters?
Informationsarchitektur hat immer zwei Seiten. Die Angebots- und die Erwartungsseite. Die reibungslose Verbindung beider ist was gute Informationsarchitektur ausmacht. iA zeichnen sich für die Gestaltung einer Reihe von Online-Nachrichten-Magazinen aus.
Worin liegt die grösste Herausforderung bei der Gestaltung dieser?
Die Einbindung von Standard-Werbeformen ist eine grosse Herausforderung. Am schlimmsten ist der Hockeystick. Tod dem Hockeystick!
Online-Nachrichten-Magazinen wird gerne vorgeworfen sie sehen alle ähnlich aus. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?
Das Aussehen einer Seite ist für mich sekundär. Was mich als Benutzer interessiert, sind Inhalte, Rhetorik, wie mit Fakten und Meinungen umgegangen wird. Als Designer interessiert mich, wie Nachrichtenseiten funktionieren und das heisst vor allem: Wie gut sie lesbar sind. In dieser Hinsicht haben vor allem Europäische Seiten immer noch viel zu lernen. Der Vorwurf, dass sich Zeitungswebseiten visuell annähern, ist unsinnig. Wenn man sich vor Augen hält, wie ähnlich viele gedruckte Zeitungen einander sind, ist das ein lachhafter Vorwurf. Klar, wenn man verschiedene Zeitungskategorien nebeneinander hält (Boulevard, Wirtschaftszeitungen, Sonntagszeitungen) dann sieht man grosse Unterschiede. Und klar, der Zeitungsdesigner sieht Welten zwischen einer NZZ und einer FAZ. Für den Amateur macht es aber visuell keinen grossen Unterschied, ob man FAZ, NZZ oder NYT in den Händen hält. Die Standards, die sich im Druckbereich etabliert haben, fangen nun auch an sich online durch zu setzen. Und das ist gut so. Es gibt auf dem Bildschirm nichts Unangenehmeres als alle Paar Minuten ein neues User Interface erlernen zu müssen.
Nachrichten-Magazine unterliegen dem Problem der Finanzierbarkeit. Haben Nachrichten-Magazine im Internet überhaupt noch eine Zukunft? Wie könnte diese aussehen?
Ganz klar: Es ist heute viel schwieriger geworden, Geld mit Inhalten zu verdienen, weil es viel mehr (und viel spezialisiertere Inhaltsanbieter gibt). Mit einem guten Inhaltsprodukt aber wird man immer Aufmerksamkeit erzeugen. Und darum geht es heute in erster Linie. Leute zahlen nicht mehr mit Geld sondern mit ihrer Aufmerksamkeit. Es ist nicht das Problem des Users, das, was eine Aufmerksamkeit auf sich zieht, zu finanzieren. Es ist genau das die Aufgabe des Verlegers. Die Aufgabe des Verlegers besteht heute wie gestern darin, die Aufmerksamkeit, die er kriegt, in Geld umzusetzen. Da war ehemals (mit einem Text-Informations-Quasimonopol) relativ einfach (alles was man brauchte war Werbung), heute ist das schwieriger. Verleger mit einem entsprechenden Unternehmergeist haben aber keine Angst vor der Zukunft, sie sehen sie als Chance.
Es scheint, wir stehen erneut vor einer Renaissance der Nachrichten-Magazin-Welt. Sehen Sie in Touchscreengeräten, wie dem Apple iPad, eine neue Chance für Screen-Nachrichten-Magazine?
Es ist noch sehr früh, ein Urteil über die Chancen des iPad zu fällen. Nach fast 4 Wochen bin ich noch immer nicht ganz sicher, wie viel Text ein iPad-Artikel wirklich erträgt. Was mir ganz offensichtlich scheint, ist, dass das iPad, das beste Photobuch, die beste Comic-Maschine und ein wunderbares Kinderbuch abgibt. Für lange Artikel scheint mir das iPad persönlich nicht besonders geeignet. Aber vielleicht findet ja einer bald die richtige Form, wie man grosse Textmengen in einen Photorahmen bringt.
Welche grundlegenden Veränderungen kamen und kommen auf Web- bzw. Interfacedesigner durch Touchscreengeräte zu?
Touchscreengeräte scheinen dem Web ähnlich zu sein, weil sie eine ähnliche Ausgabe zu haben scheinen. In der Praxis aber liegen Welten zwischen einer abstrakten Interaktion über gesonderte Eingabegeräte (Maus und Tastatur) und einer konkreten Interaktion, die direkt am Objekt erfolgt. Touchscreengeräte bringen Auge und Hand wieder zusammen. Das hat Vorteile (Interfaces werden einfacher, offensichtlicher, haben grössere Berührungsflächen) aber auch Nachteile (Texteingabe und -verarbeitung profitieren meiner Ansicht nach von der Abstraktion).
Sind Geräte mit der Benutzerstruktur eines iPads, das als konsum- anstatt interaktionsorientiert gilt, rückschrittlich?
Das kann man so nicht sagen. Es hängt halt vom Produkt ab. Einen Shakespeare in iPadformat beispielsweise will ich nicht mit Leserkommentaren verhunzen. Aber ein Programmierbuch würde enorm von Interaktion, Kommentaren und Leserbeispielen, einer laufenden Korrigenda profitieren. Da es augenblicklich noch (im Vergleich zu einer Maus-Tastatur-Eingabe) verhältnismässig umständlich ist, Text einzugeben (keine Mausfile), scheint mir die Aufforderung zu Interaktion bei iPad-Applikationen sogar als nicht mediengerecht. Worin besteht für den Konsumenten der Gewinn an animierter bzw. dramaturgisch aufgearbeiteter Information im Gegensatz zu Text, Fotografien, Charts, Grafiken etc.? Es besteht kein Gewinn, eine Grafik durch einen Film zu ersetzen. Film macht Sinn, wenn es um komplizierte, dynamische Arbeitsschritte geht. Also z.B. wie man einen bestimmten Effekt mit Photoshop erzielt. Bestimmte Nachrichten funktionieren aber besser mit einer knackigen Headline, einem interessanten Leda und einer statischen Infografik. Jede Medienart hat ihre Berechtigung. Im Vergleich zum Buch hat das iPad freilich den Vorteil, dass es alle Medienformen einsetzen kann. Der Vergleich aber hinkt. Während kein Programmierbuch sich mit der iPad-Version messen kann, scheint mir ein sauber gedruckter Roman auf dem iPad aber einen ebenso schweren Stand mit seinem gedruckten grossen Bruder zu haben. Was man dem iPad zu Gute halten kann, ist dass man keine Bäume Ufer Schundbücher und Billigdruck mehr opfern muss. Billigdruck macht im Zeitalter des iPad schlechtweg keinen Sinn mehr. Gleichzeitig sind Qualitätsdrucke eine um so wertvollere Erfahrung. (Dasselbe könnte man von Tageszeitungen vs Wochenzeitungen sagen. Das Internet hat meiner Ansicht nach zu einer Aufwertung von Wochenzeitungen geführt.)
Wie sehen Sie die Zukunft von Text?
Die durchschnittliche Textlänge schrumpft. Und das ist ganz gut so. Lange Artikel sind immer noch möglich, müssen aber teuflisch gut geschrieben sein. Ein langer Text braucht heute viel mehr dramaturgische Pflege als ehemals. Gleichzeitig sind heute Jugendliche viel kompetenter und sorgenfreier im Umgang mit Text. Sorgenfrei (nicht sorglos) werden, ist die Bedingung einer interessanten, authentischen Rede, genauso wie die Bedingung eines guten Texts. Wenn ich auf meine Schulzeit zurückblicke, dann war Spracherziehung vor allem ein Terror. Wie oft hörte man «Das ist nicht Deutsch.» oder «Das ist schlechtes Deutsch.» Die Kontrolle über die geschriebene Sprache ist heute nicht mehr in den Fingern der Deutschlehrer und Sprachpolizisten, sondern in den Daumen der Teenager. Und das ist ganz wunderbar. Auch, dass Teenager mit Sprache experimentieren und sich einen Dreck um Regeln kümmern, ist ebenso natürlich wie fruchtbar. Nur zu! Obwohl ich als Schüler relativ furcht- (um nicht zu sagen: respektlos) war, hat es Jahrzehnte gedauert, bis ich beim Schreiben die Sorge vor der Grammatik und der Orthografie aufgegeben habe und mich statt auf die Form, auf den Inhalt konzentrieren konnte. Ich bin relativ sicher, dass wir im Augenblick eine Generation heranwachsen sehen, die viel besser schreibt (und liest) als die älteren Generationen. Und mit besser meine ich nicht so wie Duden das gerne gehabt hätte vor 150 Jahren, sondern schlechtweg verständlicher, unterhaltsamer, gleichzeitig humorvoller und gleichzeitig pragmatischer.
Können Apps das Internet ersetzen?
Nein. Desktop Apps sind zum arbeiten, iPad/iPhone apps sind zum kucken und spielen, das Internet ist zum kommunizieren.
Zu guter letzt: welche Website würden Sie am liebsten einem Redesign unterziehen?
Im Augenblick arbeiten wir an genau den Projekten, die wir haben möchten. Mehr darf ich dazu nicht sagen. Eine der deutschen Seiten, die ich oft brauche und die sicher ein Redesign braucht ist Leo.org.
Quelle: Design Made in Germany.